Artikel zum Interview im Wohnheim Wiesental in Kröckelbach.
Von Ann-Kathrin Greinert/Bilder Fritz Kopetzky
Wenn Cordula Konstroffer über ihr Herzensprojekt spricht, dann strahlt sie über das ganze Gesicht. Die 70-Jährige hat 1977 etwas geschaffen, das zur damaligen Zeit für viele Menschen unvorstellbar war – ein Wohnheim für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Heute ist es als „Wohnheim Wiesental“ vielen Kröckelbachern ein Begriff. Seit vergangenem Jahr ist Tochter Alexandra Schreiber die neue Geschäftsführerin und führt das Projekt mit genauso viel Herzblut weiter. Das Wohnheim bietet seinen Bewohnern die Möglichkeit, den „normalen Alltag“ neu zu erlernen und zurück in ein eigenständiges Leben zu finden.
Mit gerade einmal 22 Jahren kauft Konstroffer eine alte Gaststätte und zieht mit 14 Menschen dort ein – allesamt Bewohner mit psychischen Erkrankungen. Die Idee zu dieser besonderen Form des Wohnheims kommt ihr ein Jahr zuvor. Als psychiatrische Krankenschwester arbeitet sie in einem Krankenhaus in Heppenheim – heute steht dort die Vitos Klinik. Sie bemerkt die starken Defizite in der Nachbetreuung psychisch Erkrankter.
„Manche Bewohner sind nur ein paar Monate hier,
andere brauchen länger und wohnen einige Jahre bei uns
Alexandra Schreiber
„Es gab schlichtweg keinen Platz, wo sie nach dem Krankenhausaufenthalt hätten hingehen können“, erinnert sich Konstroffer. Der jungen Frau ist schnell klar, dass diese Menschen viel mehr können, als ihnen von der Gesellschaft zugetraut wird. Überzeugt von ihrer Idee nimmt sie den Kampf mit den Behörden auf – mit Erfolg. „Alle Stellen, an die ich mich gewendet habe, waren sehr hilfsbereit und wollten meine Idee vom Wohnheim unterstützen.“
Zuerst kommt Gegenwind
Diesmal sind es nicht die Behörden, die Steine in den Weg legen, sondern die Kröckelbacher Bürger. Konstroffer erinnert sich noch genau an die sich damals formierende Bürgerbewegung: „Wir mussten das Wohnheim vergrößern und teilweise umbauen, um Vorschriften der Heimaufsicht zu erfüllen. Aus 14 Bewohnern wurden dann im Laufe der Zeit 23.“ Eine Entwicklung, die nicht allen Einwohnern passt.
Als Konstroffer und ihr Mann dann auch noch in einem Nachbarhaus zwei Wohngruppen einrichten möchten, kippt die Stimmung. „Plötzlich wurden Stimmen gesammelt, warum die Einrichtung nicht erweitert werden sollte. Mir hat das sehr zu schaffen gemacht“, erzählt die Gründerin. Zu groß ist die Unwissenheit der Bürger über die Bewohner des Wohnheims. Eine Mitarbeiterin der Heimaufsicht soll schließlich im Wohnheim mitarbeiten und Bericht erstatten – das Beste, was in dieser Situation passieren konnte, erinnert sich Konstroffer. Sie können die Heimaufsicht überzeugen und dürfen das Nebengebäude als Erweiterung der Wohneinrichtung nutzen.
Heute leben im Wohnheim Wiesental 35 Menschen mit den unterschiedlichsten psychischen Erkrankungen. Die häufigsten Diagnosen sind laut Konstroffer Psychosen, Schizophrenie oder bipolare Störungen – oft in Kombination mit einer Suchtproblematik. Dass es nicht immer einfach ist, jedem Bewohner gerecht zu werden, dürfte angesichts der Vielzahl an psychischen Erkrankungen schnell klar werden.
Zurück in den Alltag
Geschäftsführerin Alexandra Schreiber ist mächtig stolz auf ihr Team. „Wir kümmern uns umeinander und schaffen so ein Vertrauensverhältnis zwischen den Bewohnern und unseren Mitarbeitern“, erklärt die Geschäftsführerin. Oft sind die Bewohner aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage, ihren Alltag alleine zu bewältigen. Hier gibt das Wohnheim Struktur und eine feste Tagesordnung. „Das normale Leben muss wieder geübt werden“, erklärt Konstroffer. Ziel ist die Wiedereingliederung in ein eigenständiges Leben. Wie lange dies dauert, hängt von jedem einzelnen ab. „Manche sind nur ein paar Monate hier – das sind dann vor allem jüngere Bewohner. Andere brauchen länger und wohnen einige Jahre bei uns“, erzählt Schreiber. Mit einem Schmunzeln berichtet sie von der ältesten Bewohnerin des Wohnheims. Seit 48 Jahren lebt die mittlerweile 86-Jährige im Wiesental. Die taubstumme Frau gehört zu den ersten Bewohnern, die 1977 mit Konstroffer in das Haus in Kröckelbach einzog. „Sie hat quasi lebenslanges Wohnrecht“, erzählt Schreiber lächelnd.
„Angst vor der Angst“
Katja Bock lebt seit 2022 im Wohnheim und ist glücklich mit ihrer „Ersatzfamilie“. Die 46-Jährige möchte nicht näher über ihre Erkrankung sprechen, ist aber heute nicht mehr in der Lage, mehr als drei Stunden am Tag zu arbeiten. Das Strukturieren des Alltags fällt ihr sehr schwer, erzählt sie. Oft überkommen sie Ängste, die sie im täglichen Leben beeinträchtigen. Selbst wenn diese schweigen, hat sie „eine Angst vor der Angst“. Der Versuch, in WGs und einer eigenen Wohnung zu leben, scheiterte. Es brauchte nur ein kurzes Telefonat mit Alexandra Schreiber, und die 46-Jährige konnte ins Wiesental ziehen. Mittlerweile lebt sie im Nebengebäude in einer Wohngruppe und übt das tägliche Leben jeden Tag aufs Neue. Das Schreiben hilft Bock, ihre Ängste zu verarbeiten und „wirkt wie ein Ventil, um die eigenen Gedanken zum Schweigen zu bringen“
Die nächste Generation
Schreiber ist gelernte Altenpflegerin und „wollte schon immer mit Menschen zusammenarbeiten“. Nach nur einem Jahr im Beruf erleidet sie einen Bandscheibenvorfall und muss sich neu orientieren. Sie schließt die Ausbildung zur Sozialwirtin ab und beginnt 2008 unter der Leitung ihrer Mutter im Wohnheim zu arbeiten. Schließlich wird sie Wohnheimleiterin. 2024 kauft sie ihrer Mutter das Wohnheim ab und übernimmt die Geschäftsleitung. Konstroffer bleibt weiterhin ein fester Bestandteil des Wohnheimlebens. Für die ihre Tochter eine enorme Hilfe: „Meine Mutter hat eine wichtige beratende Funktion für mich. Ich möchte die Aufgaben in ihrem Sinne weiterführen.“ Auch Konstroffer ist von der Geschäftsübernahme begeistert: „Mein Herzensprojekt bleibt in der Familie. Besser geht es nicht.“
Für die Zukunft wünschen sich die Frauen einen Abbau der Bürokratie – das würde vieles einfacher machen. Katja Bock hat ganz persönliche Wünsche für die Zukunft: Sie möchte bald in den Mörlenbacher Werkstätten der Behindertenhilfe Bergstraße arbeiten. „Und ein Urlaub auf Rügen wäre auch toll.“